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  • Jannis

Goldfische

Aktualisiert: 8. Mai

Hast du wirklich Lust, diesen Text zu lesen? Denn das wird länger als 30 Sekunden dauern. Wahrscheinlich wirst du in dieser Zeit ein paar Mal abschweifen, den Fokus verlieren, einen Absatz zweimal lesen oder ab der Hälfte eine andere App öffnen. Das könnte, wenn nicht am Schreibstil des Autors, an deinem Konsum von sozialen Medien liegen.


Denn 30 Sekunden sind ungefähr die durchschnittliche Länge von Instagram Reels; Tik-Toks sind sogar noch kürzer. Soziale Medien wie Instagram, TikTok und, für die Boomer, auch noch Facebook sind kaum noch aus unserer Gesellschaft wegzudenken. Besonders in diesen Gruppen steigt die tägliche Internetnutzung stetig an. Clips, die nach dem Vorbild von TikTok auf Dauerschleife laufen und beim Swipen direkt in den nächsten Clip übergehen, scheinbar ohne Ende.


Deshalb wird der Algorithmus auch immer besser und präziser, je mehr man eine bestimmte Plattform nutzt. Wie genau ihre Algorithmen funktionieren und wie sie verfügbare Daten nutzen, verschweigen die großen Tech-Unternehmen. Auf jeden Fall scheinen sie zu funktionieren, denn laut Statista gaben 15 % der Teilnehmer einer Studie von 2023 im Alter von 23 bis 38 Jahren an, abhängig von sozialen Medien zu sein.



(Statista) 


Wenn man sich die Strukturen hinter den witzigen, informativen oder einfach dummen Videoclips vor Augen führt, müssen diese Zahlen niemanden mehr wundern. Denn hinter den Social-Media-Plattformen stehen immense Kapitalinteressen. Die Algorithmen der Reels sind explizit darauf ausgelegt, die Nutzer abhängig zu machen. Denn je mehr Zeit eine Person auf einer Plattform verbringt, desto mehr Gewinn kann die Plattform auch durch Werbung erzielen. Folglich muss die Screentime der Nutzer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gesteigert werden.


Ein Indikator für die Umsätze, die Unternehmen durch soziale Medien generieren können, ist der Average Revenue per User (ARPU), also die durchschnittliche Einnahme pro Nutzer. Bei Instagram liegt dieser schätzungsweise bei einem Euro pro Minute. Die Meta-Gruppe, zu der Facebook und Instagram gehören, hat einen der höchsten ARPU-Werte unter den sozialen Medien. Dadurch erzielte Meta allein im Jahr 2021 einen Reingewinn von 10 Milliarden Dollar.


Große Tech-Konzerne machen also ganz bewusst ihre Nutzer abhängig, um ihren Gewinn zu steigern. Die Konsequenzen für die Gesellschaft sind dabei immens. Neben all den Möglichkeiten zur Kommunikation, Vernetzung und Unterhaltung bergen die sozialen Medien Schattenseiten wie Sucht, Isolierung, psychische Krankheiten und die Bildung radikaler Echokammern.

Eine weitere nachweisbare Konsequenz von sozialen Medien ist der Rückgang der Aufmerksamkeitsspanne. Ein mittlerweile verbreiteter urbaner Mythos besagt, dass wir durch das Internet unsere Aufmerksamkeitsspanne so sehr verringert haben, dass sie unter der eines Goldfisches liegt. So schlimm ist es wohl noch nicht.


Laut einer repräsentativen Studie der kalifornischen Psychologie-Professorin Gloria Mark lag die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne im Jahr 2012 bei 75 Sekunden. In den letzten 5 bis 6 Jahren fiel der Durchschnitt jedoch auf nur noch 47 Sekunden, mit einem Trend zur weiteren Verkürzung. Ein maßgeblicher Grund dafür ist die Internetnutzung, speziell die von sozialen Medien. Besonders bei den bereits beschriebenen Reels ist der Effekt stark, denn zusätzlich zu den kurzen Zeitspannen der verschiedenen Clips wird durch das Scrollen ein künstliches, sofortiges Befriedigungsgefühl im Gehirn ausgelöst. Dies wirkt sich negativ auf die mentale Gesundheit aus und führt langfristig zu Gefühlen der Langeweile ohne soziale Medien, was wiederum Suchtverhalten fördern kann.


Neben all den negativen Folgen für das Individuum und, im Rückschluss, auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zukunft von persönlichen Beziehungen, darf man die instrumentelle Macht hinter den Algorithmen und sozialen Medien nicht außer Acht lassen. Wer die Algorithmen kontrolliert, bestimmt, was Milliarden von Menschen tagtäglich zu sehen bekommen. Reale, sowie politische und gesellschaftliche Konflikte werden immer auch auf sozialen Medien ausgetragen, und der Einfluss der geheimen Algorithmen darauf ist unklar. Auch Wahlen oder Umfragen sind nicht sicher vor Einflussnahme.

Beeinflussung von Wahlen durch Digitalisierung




(Freedom House)


Dass so viel Macht in den Händen so weniger liegt, ist problematisch und bedarf einer Veränderung. Das haben mittlerweile auch einige Regierungen erkannt. So hat beispielsweise die EU den „Digital Services Act“ verabschiedet, der soziale Netzwerke dazu verpflichtet, gegen illegale Inhalte auf ihren Plattformen vorzugehen. Doch das ist längst nicht ausreichend. Soziale Netzwerke müssen transparenter werden und ihr Suchtpotenzial reduzieren. Zur Not auch durch staatlichen Eingriff.

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